Stuttgart – Er war Handballtorwart, Bundesvorsitzender, Europaabgeordneter und zuletzt Landwirtschaftsminister – nun soll Cem Özdemir (59) die Grünen als Spitzenkandidat zur Landtagswahl 2026 führen und nach Winfried Kretschmanns 15-jähriger Amtszeit die Macht im Südwesten sichern.
Der „anatolische Schwabe“ mit politischem Biss
Wenn Özdemir heute über seine Jugend spricht, dann gerne über seine Zeit im Tor des TSV Urach. „Wer den Ball immer wieder ins Gesicht bekommt, lernt, sich nicht wegzuducken“, sagt er – eine Haltung, die ihm auch im rauen politischen Geschäft zugutekommt. Und genau diese Standfestigkeit wird er brauchen, denn die Herausforderung ist groß: Ministerpräsident werden in einem traditionell konservativen Land – als erster Grünen-Politiker mit türkischen Wurzeln.
Vom Bundestag ins Rennen um die Staatskanzlei
Politische Erfahrung bringt Özdemir reichlich mit. Bereits 1994 zog er als erster Abgeordneter mit türkischem Hintergrund in den Bundestag ein. Nach einer kurzen Auszeit in Brüssel kehrte er zurück, übernahm die Parteiführung der Grünen, wurde 2021 direkt gewählter Abgeordneter in Stuttgart – und im Kabinett Scholz Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Zuletzt leitete er nach dem Koalitionsbruch auch übergangsweise das Bildungsministerium.
Zwischen Kritik und Charisma
Kritiker bemängeln eine eher durchwachsene Bilanz als Minister, insbesondere im Umgang mit der Bauernprotest-Welle rund um die Streichung der Agrardiesel-Subventionen. Doch Özdemir versteht es, sich in Szene zu setzen: Mal fährt er mit dem Fahrrad zum Bundespräsidenten, mal punktet er mit schwäbischem Dialekt auf Wahlkampfbühnen – das kommt an, zumindest in urbanen Regionen. Auch beim VfB Stuttgart zeigt er sich als Fan mit Herz, was seiner Nahbarkeit zugutekommt – bei politischen Gegnern aber auch für Spott sorgt.
Herkunft als Stärke – oder Hindernis?
Dass Özdemir der Sohn türkischer Gastarbeiter ist, daraus macht er keinen Hehl – im Gegenteil: Er erzählt offen, wie ihn Nachbarn, Lehrer und Trainer unterstützten, wie er sich von einfachen Verhältnissen hocharbeitete. Doch innerhalb der Partei wird auch diskutiert, ob seine Herkunft in ländlicheren Regionen Baden-Württembergs ein Nachteil sein könnte. Özdemir bleibt gelassen: „Wer damit ein Problem hat, würde mich sowieso nicht wählen.“
Eine Ära geht zu Ende – eine neue beginnt?
Winfried Kretschmann, der das grüne Urgestein seit 2011 stellt, tritt nicht mehr an. Die Messlatte liegt hoch, doch Özdemir bringt eine klare Botschaft mit: Erfahrung, Rückgrat und eine Geschichte, die viele im Land inspiriert. Am kommenden Parteitag in Heidenheim soll seine Spitzenkandidatur offiziell bestätigt werden. Dann beginnt das Rennen – mit Özdemir als Hoffnungsträger für die Grünen im Südwesten.